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Clemens Rother: "Ich bin überzeugt, dass wir gestärkt aus dieser Krise gehen werden."

Durch den Corona-Virus befindet sich Tschechien im nationalen Notstand. Die Deutsche Schule Prag ist eine internationale Bildungseinrichtung mit über 540 Schülerinnen und Schülern aus über 20 Nationen. Wir sprechen mit Clemens Rother, dem Schulleiter.

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DSP: In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Besprechungen mit den tschechischen Behörden, der bundesdeutschen Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und dem Auswärtigen Amt. Zu welchen Regelungen sind Sie gekommen?

Clemens Rother: Momentan ändert sich die Lage fast täglich. Was heute gilt, ist morgen womöglich nicht mehr aktuell. Aber es ist uns gelungen, eine offizielle Genehmigung der deutschen Behörden für unser Konzept des Digitalen Unterrichts zu bekommen. Unser E-Learning wird als gleichwertiger Ersatz für den „normalen“ Unterricht anerkannt und wurde in Teilen als beispielhaft für die Deutschen Schulen der Region vorgestellt. Am Montag werden wir es der tschechischen Schulinspektion erläutern und ich bin sicher, dass es auch dort auf große Zustimmung stoßen wird. Wir müssen uns also keine Sorgen machen. Am Ende des Schuljahres wird es nicht nur Versetzungszeugnisse, sondern auch ganz reguläre Abiturzeugnisse geben und anschließend Sommerferien. 2020 ist ein schweres, aber keineswegs ein verlorenes Jahr. Gerne hätten wir kurz nach der Schließung die Möglichkeit gehabt, dass unsere Abiturienten einzeln zu Konsultationen mit ihren Prüfern in die Schule kommen durften. Das wurde seitens des tschechischen Bildungsministeriums abgelehnt. Im Nachhinein betrachtet war dieses konsequente Vorgehen richtig, wenn man sieht, wie sich die Infektionszahlen in den letzten Wochen entwickelt haben.

DSP: Wie sieht nun konkret der Unterricht während der Schulschließung aus?

Clemens Rother: Glücklicherweise konnten wir sofort mit dem digitalen Unterricht starten. In diesem Schuljahr haben wir die von Herrn Bayer entwickelte Kommunikations- und Lernplattform DESTO eingeführt, die sich jetzt als wahrer Segen bewährt, zumal Herr Bayer sie ständig weiterentwickelt und den Wünschen von Lehrern, Eltern und Schülern anpasst. Dafür können wir ihm nicht genug danken! Der Unterricht bedeutet für die Lehrkräfte zunächst einmal deutlich mehr und vor allem eine andere Arbeit, als wir anfangs vermutet haben. Wir stellen jeden Tag Aufgaben bereit, alle Fächer sind beteiligt. Dabei geht es darum, neue und interaktive Aufgabenformate zu entwickeln, differenzierte Angebote zu machen, kooperatives Arbeiten zu ermöglichen und die Schüler für die Arbeit im Homeoffice zu motivieren. Das ist für uns eine anspruchsvolle Aufgabe. Zunehmend arbeiten wir auch mit Videokonferenzen. Wir bemühen uns um eine ausgewogene Mischung von verschiedenen Unterrichtsformen. Anfangs haben manche Eltern und Schüler erwartet, dass wir nach unserem Stundenplan mehrere Stunden am Tag Videounterricht haben und der einzige Unterschied zum normalen Alltag die räumliche Trennung ist. Das wäre zum einem für alle überaus anstrengend und ist zum anderen nicht unser Verständnis von digitalem Lernen. Zudem wäre es in Familien mit mehreren schulpflichtigen Kindern schwer zu realisieren. Es geht jetzt darum, die Möglichkeiten der digitalen Medien zu nutzen, um neue Unterrichtsformen zu entwickeln und zu erproben. Ich schaue mir gelegentlich die Aufgaben der Kollegen an und bin begeistert, was für tollen Unterricht ich da teilweise sehe. Wir arbeiten jetzt daran, den Unterrichtstag für die Schüler noch besser zu strukturieren, sie und auch uns selbst nicht zu überlasten und auch den sozialen Bedürfnissen durch direktere Kommunikation gerecht zu werden. Auch die Angebote des Kindergartens finde ich ganz hervorragend. Die vielfältigen Materialien, die das Team täglich für die Kinder erstellt, sind beispielgebend. Ein großes Kompliment vom Schulleiter!

DSP: Das E-Learning bietet den Schülern und Lehrern auch viele neue Chancen. Wo sehen Sie diese?

Clemens Rother: Wir haben am Beginn des Schuljahres beschlossen, die Möglichkeiten digitaler Medien mehr für unsere Unterrichtsangebote zu nutzen, den Bereich „Digitalisierung“ in den Aktionsplan im Schulprogramm aufgenommen und die Arbeit mit DESTO begonnen. Natürlich hätten wir nie gedacht, unsere Absichten und Pläne so schnell umsetzen zu müssen. Jetzt machen wir gezwungenermaßen Schulentwicklung im Schnelldurchlauf. Die Lehrinnen und Lehrer bilden sich in Videokonferenzen gegenseitig fort, probieren Lern-Apps aus und entwickeln täglich digitalen Unterricht. Darin steckt eine große Chance, wenn es gelingt, diese neuen Ansätze auch im künftigen Unterrichtsalltag wirksam werden zu lassen. Ein großes Thema jeder Schule ist heute das personalisierte Lernen, d.h. ein Lernen, das den Begabungen, Interessen, Bedürfnissen und dem Lerntempo jedes einzelnen gerecht werden kann und trotzdem in Lerngruppen und im Rahmen von Lehrplänen stattfindet. E-Learning kann eine Unterstützung sein, sich diesem Ziel zu nähern. Wenn es gelingt, liegen darin auch große Chancen für Schülerinnen und Schüler. Ein Problem ist, dass E-Learning im Fernunterricht eine hohe Kompetenz im  eigenverantwortlichen, selbstgesteuerten Lernen und Arbeiten erfordert. Auch wenn wir durch unsere Art des Unterrichtens sicher schon den Grundstein dafür gelegt haben, stellt die aktuelle Situation unsere Schüler vor große Herausforderungen, auf die wir sie nur teilweise vorbereiten konnten. Sie müssen also wie ihre Lehrer jetzt Entwicklungen im Schnellgang vollziehen und wir merken, wie anstrengend das teilweise ist, zumal die psychischen Belastungen der Krise nicht zu unterschätzen sind. Dennoch ergeben sich viele Chancen. Mit Sicherheit erlernen unsere Schüler derzeit Arbeitsformen, die Ihnen später im Studium und im Beruf sehr helfen können. Zudem erleben wir, dass manche der sonst stilleren Schüler im E-Learning plötzlich viel besser klarkommen und bessere Leistungen erzielen können. Das ist nicht nur eine gute Chance für diese Schüler, sondern auch für uns ein Anlass, über unser übliches Unterrichtsangebot und die Formen der Leistungsbeurteilung nachzudenken.

DSP: Jetzt haben wir die Schüler vor Augen, die gerade auf das Abitur zugehen. Für die zählt jetzt jede Woche, mehr noch, als vielleicht für die Fünft- oder Sechstklässler. Wie bekommen Sie diese abiturreif?

Clemens Rother: Unsere Unterrichtsangebote sind so gut entwickelt, dass wir da keine Sorgen haben. Glücklicherweise sind die schriftlichen Prüfungen im deutschen Abitur geschrieben und korrigiert, sodass schon ein großer Teil geschafft ist. Die mündlichen Prüfungen haben wir mit Genehmigung unserer Prüfungsvorsitzenden der KMK um zwei Wochen in den Juni verschoben. Dadurch gewinnen wir etwas Zeit und hoffen, dass wir noch eine Phase im Präsenzunterricht bekommen werden, um mündliche Prüfungen zu simulieren, zu wiederholen und Konsultationen anzubieten. Sollte das nicht klappen, ist das aber auch kein Problem. Alle gehen mittlerweile so routiniert mit Videokonferenzen um, dass wir das auch auf diesem Wege schaffen. Abgesehen davon haben wir wirklich gute und motivierte Schüler, von denen viele längst abiturreif sind.

DSP: Wir erleben gerade, dass gewohnte Routinen und normaler Schulalltag zerfallen. Wie geht es Ihren Lehrerkollegen gerade in der Situation?

Clemens Rother: Die Situation ist eine große Herausforderung für alle. Viele von uns haben kleine Kinder und müssen jetzt – wie so viele Eltern – Homeoffice und Kinder unter einen Hut kriegen. Andere sind alleine in Prag und „social distancing“ ist dann nicht einfach, insbesondere in einem Beruf, der sonst eine ausgesprochen hohe Kommunikationsdichte hat. Der Kontakt zu den Schülern und Kollegen per Video ist sicher hilfreich, aber eben doch etwas anderes. Hinzukommt, dass viele noch mehr arbeiten als sonst. Wir müssen Unterricht neu denken, uns in kürzester Zeit in neue Programme einarbeiten und die Aufgaben, die wir den Schülern stellen korrigieren, um ihnen möglichst schnell ein angemessenes Feedback zu geben. Das Kopfnicken, Lächeln oder das kurze „Sehr gut“, das wir sonst im Unterricht nutzen, ist hier entweder nicht möglich oder reicht nicht aus. Fernunterricht ist zeitintensiv und anstrengend. Ich erlebe aber, dass viele meiner Kollegen mit Freude und Engagement daran arbeiten und wirklich ihr Bestes geben. Das ist sehr beeindruckend.

DSP: Wie hat sich Ihr Alltag als Schulleiter verändert?

Clemens Rother: Die Tage sind voller und hektischer als sonst. Die Schulleitertätigkeit besteht zu einem großen Teil in Kommunikation und Entscheidungen im Minutentakt. Der Teil der Kommunikation ist deutlich gewachsen und aufwändiger. Das ist einfach der Situation geschuldet. Ich bin von morgens bis abends in der Schule, aber Irgendetwas fehlt…richtig, die Schüler, die wir alle sehr vermissen. Phantastisch ist für mich gerade die Zusammenarbeit mit der erweiterten Schulleitung, mit Frau Špetová und der Verwaltung sowie dem Vorstand der Schule. In Krisen zeigt sich, wie gut Teams wirklich funktionieren. Die Zusammenarbeit an der Spitze der DSP funktioniert hervorragend und so ist alles gut zu bewältigen.

DSP: Welche Reaktionen erhalten Sie von den Eltern und Schülern? Zeigen sie Verständnis für die außergewöhnliche Situation?

Clemens Rother: Wir erhalten viele positive Rückmeldungen, die uns guttun und in unserem Bemühen um guten digitalen Unterricht bestärken. In der letzte Woche durchgeführten IQES-Befragung zum digitalen Unterricht haben wir eine hohe Zufriedenheit mit unserem Angebot gespiegelt bekommen und zugleich wertvolle Anregungen für die weitere Entwicklung. Eltern und Schüler sind z. Zt. sehr verständnisvoll, wertschätzend und auch geduldig, wenn nicht gleich alles klappt. Das ist eine große Unterstützung und zeigt, was für eine gute Gemeinschaft die DSP ist.

DSP: Wann glauben Sie, wird die Deutsche Schule Prag ihre Türen wieder öffnen und wird es danach eine andere Schule sein?

Clemens Rother: Zur ersten Frage: Das ist schwer zu sagen und momentan wirklich eine „Glaubensfrage“. Ich fürchte, nicht vor Mitte Mai und womöglich auch erst im Juni. Vielleicht auch erst schrittweise, beginnend mit den jüngeren Klassen aufsteigend. Vor zwei Monaten hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass wegen Corvid-19 die Schulen in ganz Europa geschlossen werden. Deshalb wage ich keine Prognose. Die Schule wird danach eine andere sein. Ich bin überzeugt, dass wir gestärkt aus dieser Krise gehen werden. Weil wir die Situation gut meistern werden, viel dazulernen und danach die Gemeinschaft und die Atmosphäre in unserer Schule mit anderen Augen sehen und genießen werden. Welche negativen Auswirkungen es vielleicht gibt, bleibt abzuwarten. Wir wissen natürlich, dass die wirtschaftlichen Folgen auch vor unseren Familien nicht Halt machen und können nur hoffen, dass am Ende alle gut aus der Krise kommen. In meinen Augen ist die DSP eine starke Schule, die mit dieser Krise fertig wird. Jetzt ist erstmal wichtig, dass alle gesund bleiben und nicht den Mut verlieren. Dort wo wir helfen können, werden wir da sein.

DSP: Herr Rother, die neue Grußformel heißt "Bleiben Sie gesund!". Das wünschen wir Ihnen auch. Bleiben Sie gesund und vielen Danke für das Gespräch.